Krebs ist nach wie vor die zweithäufigste Todesursache weltweit, wobei Prostatakrebs die häufigste Krebsart bei
Männern und Brustkrebs bei Frauen ist. Krebs ist ein komplexes Leiden, das als unkontrolliertes Wachstum
(Proliferation) einer Gruppe von Zellen beginnt. Er umfasst mehrere hundert verschiedene Arten und
beeinträchtigt meist mehrere Körpersysteme gleichzeitig. Die meisten Krebsarten sind durch bestimmte
Merkmale gekennzeichnet, wie zum Beispiel eine aufrechterhaltene zellproliferative Signalgebung, die Umgehung
von Tumorwachstumsunterdrückern, die Resistenz gegen den Zelltod oder Apoptose, das Auslösen einer
Angiogenese und schließlich die Invasion und Migration (Metastasierung).
Zwei entscheidende ursächliche Faktoren, die zu diesen Merkmalen beitragen, sind genetische Veränderungen
und die Entzündungsreaktion des Immunsystems, die zu allen Phasen der Tumorentstehung beiträgt. Studien
haben gezeigt, dass drei grundlegende biologische Faktoren zur Entstehung und zum Fortschreiten der
Tumorentstehung beitragen: (1) oxidativer Stress, der zu DNA-Schäden führt; (2) Entzündungen, die dazu
beitragen, der Apoptose zu entgehen sowie Angiogenese und Metastasierung fördern und (3) übermäßige
Sympathikusaktivität, die sich darauf auswirkt, wo Krebszellen metastasieren werden.
Es gibt jedoch eine Komponente, die diese drei Faktoren, die zur Krebsentstehung beitragen, gemeinsam haben,
die alle drei beeinflusst oder sogar hemmt und eventuell auch die Krebsprognose vorhersagen kann.
Wissenschaftler vermuteten nun, dass der Vagusnerv alle diese Anforderungen erfüllen könnte. Die Stimulation
des Vagusnervs reduziert oxidativen Stress, informiert das Gehirn über Entzündungen und hemmt diese sogar
nachhaltig, und natürlich reduziert der Vagusnerv die Aktivität des Sympathikus, da er ein wichtiger Zweig des
parasympathischen Nervensystems ist.
Ein kürzlich entdeckter neuer Signalweg zeigte, dass die Stimulation des Vagusnervs TFF2, einen Suppressor von
MDSC (Myeloide Suppressorzellen), erhöht; somit könnte die Stimulation des Vagusnervs die zelluläre Immunität
erhöhen. Aus diesen Gründen wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Aktivität des Vagusnervs eine schützende
Rolle bei Krebserkrankungen spielen könnte. In dem vorliegenden Artikel wurden die epidemiologischen Belege
für diesen Zusammenhang untersucht.
Der Vagusnerv, der auch als Wandernerv bezeichnet wird, ist der 10. Hirnnerv, innerhalb des Hirnmarks im oberen
Halsbereich zwischen der Vena jugularis interna und der Arteria carotis interna entspringt. Der Nervus vagus regt
dann mehrere viszerale Organe an, darunter das Herz, die Bauchspeicheldrüse, die Lunge und den Magen-Darm-
Trakt. Der Vagusnerv ist ein komplexes homöostatisches System, das über mehrere Neurotransmitter funktioniert
und mehrere Systeme (kardiovaskuläre, neuroendokrine und immunologische) beeinflusst. Er kann periphere
Entzündungen wahrnehmen und leitet Aktionspotenziale aus der Peripherie an den Hirnstamm weiter. Dies
wiederum führt zur Erzeugung von Aktionspotenzialen im absteigenden Vagusnerv, wo die Produktion
proinflammatorischer Zytokine gehemmt wird. Der Vagusnerv ist für seine schützende Wirkung bei vielen
pathologischen Zuständen bekannt. Die molekulare Grundlage dieses entzündungshemmenden Kreislaufs, der als
cholinerger Entzündungsweg bezeichnet wird, umfasst den Neurotransmitter Acetylcholin, der mit der
Untereinheit des nikotinischen Acetylcholinrezeptors alpha-7 interagiert, der auf Monozyten, Makrophagen und
anderen Zytokin produzierenden Zellen exprimiert wird. Die Signaltransduktion über diesen Rezeptor hemmt die
Freisetzung von Zytokinen, unterdrückt Entzündungen und spielt bei vielen Erkrankungen eine schützende Rolle.
Viele Studien haben die Bedeutung und die schützende Wirkung des Vagusnervs bei wichtigen Krankheiten wie
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer und Autoimmunerkrankungen gezeigt. Andererseits wurde eine geringe
Aktivität des Vagusnervs mit einem schlechten Behandlungsergebnis in Verbindung gebracht, während die
Stimulation des Vagusnervs bei anderen Erkrankungen wie Reizdarmsyndrom, metabolischem Syndrom, Diabetes,
Sepsis, Pankreatitis, Depression, Schmerzen und Epilepsie zu einem guten Behandlungsergebnis führte.
Seine Aktivität kann auf nichtinvasive Weise durch die Messung der Variabilität der Herzintervalle zwischen den
Schlägen, der so genannten Herzfrequenzvariabilität (HRV), gemessen werden. Die HRV ist in der Tat stark mit der
tatsächlichen Aktivität des Vagusnervs korreliert. Wichtig ist, dass dieser Nerv eine wichtige homöostatische
Funktion hat: Es wurde festgestellt, dass sich Menschen mit einer hohen HRV physiologisch schneller von Stress
erholen, und zwar in drei physiologischen Systemen, nämlich dem kardialen, dem hormonellen und dem
Immunsystem, im Vergleich zu Menschen mit einer niedrigen HRV. Darüber hinaus wurde bei Menschen mit hoher
HRV eine Synchronisation zwischen Gehirnaktivität und peripherer Immunität in Regionen, die die Homöostase
modulieren, beobachtet. Somit hat der Vagus eine entscheidende kommunikative und moderierende
homöostatische Rolle in mehreren Körpersystemen, und sein Index, die HRV, hat eine prognostische Rolle bei
verschiedenen Gesundheitszuständen. Die Frage ist, ob dies auch bei Krebs der Fall ist.
Die Wissenschaftler untersuchten genau diesen Zusammenhang zwischen HRV und dem Überleben einer
Krebserkrankung. Sie identifizierten eine Gesamtstichprobe von 1286 Patienten aus sechs Studien. Insgesamt
sagte die HRV signifikant ein geringeres Sterberisiko bei verschiedenen Krebsarten voraus. Es wurden jedoch
keine Studien einbezogen, die auch andere klinische Ergebnisse wie Tumormarker verwendeten, um eine
umfassendere Untersuchung der prognostischen Rolle der HRV bei Krebs zu ermöglichen. Darüber hinaus wurden
Studien mit Krebspatienten im Endstadium ausgeschlossen, aber auch solche Informationen sind wichtig, um die
prognostische Rolle der HRV im gesamten Spektrum der Krebsstadien und -schweregrade zu beleuchten. Es
wurde auch keine Bewertung der Qualität der Studien vorgenommen, die es ermöglichen würde, die HRVPrognose-
Beziehung nur in den methodisch besseren Studien zu testen und künftige Studien systematisch darüber
zu informieren, wie sie wissenschaftlich verbessert werden können. Außerdem wurden keine experimentellen
Studien diskutiert. Die vorliegende Übersichtsarbeit hatte zum Ziel, diese Lücken zu schließen. Da die Hypothese
aufgestellt wurde, dass der Vagusnerv drei Faktoren hemmen kann, die entscheidende onkogene Mechanismen
darstellen (oxidativer Stress, Entzündungen und übermäßige Sympathikusaktivität), erwarten wir, dass eine hohe
Vagusnervaktivität eine gute Prognose bei Krebs voraussagt und das Tumorwachstum verlangsamt.
Die Arbeit der Wissenschaftler gibt einen systematischen Überblick über die Studien, in denen der
Zusammenhang zwischen der HRV und der Krebsprognose (Überleben und Tumormarker) untersucht wurde
(epidemiologische Evidenz), gefolgt von experimentellen Studien, in denen die Auswirkungen der Vagotomie und
der Stimulation des Vagusnervs auf die Krebsprognose getestet wurden (experimentelle Evidenz). Die 12
ausgewerteten Studien zeigen ein recht einheitliches Bild: Die HRV hat einen prognostischen Wert bei
Krebserkrankungen, der sowohl das Überleben als auch Tumormarker bei verschiedenen Krebsarten vorhersagt.
Die Mehrheit der untersuchten Studien zeigt, dass eine höhere anfängliche Aktivität des Vagusnervs eine bessere
Krebsprognose voraussagt, unabhängig von wichtigen prognostischen Faktoren wie Alter, Krebsstadium oder
Behandlung. Die relative Konsistenz in den oben untersuchten Studien über Stichproben mit verschiedenen
Krebsarten, Stadien und Arten von HRV-Messungen hinweg deutet auf eine robuste prognostische Rolle der
Vagusnervaktivität bei Krebs hin. Selbst wenn nur die Studien einbezogen werden, die statistisch um Störfaktoren
bereinigt wurden und daher eine bessere Methodik aufweisen, kommen 100 % dieser Studien zu denselben
Ergebnissen. Den Forschenden fiel außerdem ein positiver Zusammenhang zwischen der HRV und einer besseren
Prognose in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung, auf. Möglicherweise sind Behandlungen wie Chemo- und
Strahlentherapie in früheren Tumorstadien erfolgreicher bei der Verkleinerung des Tumors und bei der
Beeinflussung der Tumormarker. Diese starken therapeutischen Eingriffe lassen in diesen Stadien weniger
Spielraum für eine Beeinflussung des Prozesses durch die Aktivität des Vagusnervs. Im Gegensatz dazu könnten
diese Behandlungsformen in späteren, fortgeschrittenen Stadien weniger Einfluss haben, während die
(systemische) vagale Aktivität dann von größerer Bedeutung sein könnte. Es wäre außerdem möglich, dass die drei
Faktoren, die durch den Vagusnerv gehemmt werden (oxidativer Stress, Entzündungen und systemische Aktivität),
in fortgeschrittenen Krebsstadien eine wichtigere Rolle spielen, wodurch die prognostische Rolle des Vagusnervs
in späteren Stadien zunehmen würde.
Unabhängig von den genauen Mechanismen sollten die Forschenden der hier untersuchten Studien in Erwägung
ziehen, die HRV zukünftig auch in die klinische onkologische Prognoseeinschätzung einzubeziehen, da sie in allen
eine konsistente und unabhängige Rolle spielt. Viele der prognostischen Faktoren bestehen bisher aus klinischen
Symptomen und Anzeichen sowie Einschätzungen von Ärzten und werden mitunter von ihrer klinischen Erfahrung
beeinflusst. Daher könnte die Auswertung von nicht-invasiven und objektiven HRV-Messungen zur Einschätzung
der Patientenprognose beitragen und eben diese Probleme überwinden.
Quelle
www.doctaris.com